Web 1.0 oder Wie wir Teil der Dotcom-Blase waren

Geschrieben von Alexander Balow am 21. Dezember 2006 @ 20:12 für schwerin-schwerin.de (defunct)

Es war irgendwann damals, in diesen sogenannten Dot-Com-Zeiten. Stürmische Zeiten. Aber mit ganz vielen Ideen, sogar guten Ideen. Und talentierten jungen Menschen, die ihre Träume umsetzen wollten.

So wie netzteil.

Handarbeit an allen Fronten

Es war eine interessante Idee: Internetautomaten, also Computer in einer formschönen Verpackung und einem Geldeinwurf-Automaten, sollen an zentralen Plätzen aufgestellt werden. Der Münzeinwurf startet die Internet-Session, die Größe der Geldbörse bestimmt die Dauer des Surfvergnügens. Noch vor einem hieb- und stichfesten Businessplan waren Designentwürfe und Prototypen da. Aber es fehlte Geld. Relativ viel Geld, denn die Automaten (wir nannten sie “Terminals”) sollten nahezu in Serie produziert werden. Dies jedoch in echter Handarbeit. Schließlich hatte eine Designerin aus Skizzen das Modell entwickelt, ein Tischler aus Pinnow daraus den Prototypen gebaut. Total schick.
Auszug aus einer Produktbroschüre von netzteil
Die Verhandlungen mit ersten Interessenten brachten noch vor einem Prototypen einen interessanten, aber großen Markt: Jugendherbergen. Ein wenig ausgeborgt war diese Idee. Bei einem USA-Aufenthalt der späteren Gründer standen genau solche Geräte in den Jugendherbergen am grossen Teich. Genial einfach - die Idee kam ins Gepäck und mit nach Deutschland.
Mit dem Deutschen Jugendherbergsverband wurden Vorverträge geschlossen, die ersten Teststellungen waren vereinbart. Ein riesiges Projekt. Man überlege, wieviele Jugendherbergen es in Deutschland gibt. Natürlich wurden für die Testphase zunächst die interessantesten Standort herausgesucht. Mirow zum Beispiel, Vorzeige-Jugendherberge und auch unter politischer Be(ob)achtung. Also perfekt, um Terminal und Konzept zu plazieren.

Fünf Millionen? Kein Problem!

Zwischenzeitlich war das notwendige Kapital für den Start aus dem privaten Umfeld generiert. Denn den Banken reichten dynamisches Auftreten, interessante Idee und “Nerds” nicht aus. Vor allem aber schien das benötigte Kapital zu gering zu sein. Selbst große regionale Bankhäuser und Geldinstitute belächelten die Anfragen. “Wenn Sie fünf Millionen haben wollen, können wir was machen. Aber Sie wollen ja nichtmal ein fünftel davon!”, war bei vielen “Beratern” der O-Ton. Ganz nebenbei hatten natürlich auch die Gründer Ehrfurcht vor derart großen Investitionen. Millionensummen, die man sonst nur aus der Zeitung kennt, nimmt man nicht mal so in die Hand. Auch nicht hier.

So ist Schwerin.

Randprodukte

In einer Metropole wäre es aus meiner Sicht viel leichter gewesen, fremdes Kapital für das Projekt und die Verwirklichung des Traums zu bekommen. Nicht so in Schwerin. Mezzanine, Hedgefonds - all das steckte damals noch in den Kinderschuhen.
Gute Stimmung bei den Gründern ;-)
Und so wurden die privaten Kontakte zur Beschaffung genutzt. Nicht unerheblich, was am Ende “auf dem Tisch lag”. Und es reichte, wie sich später herausstellen sollte, hinten und vorne nicht.
netzteil entwickelte sich schnell. Neben den Terminals, die ersten Geräte liefen erstaunlich stabil im Dauerbetrieb, wurde an Verwaltungssoftware zum Handling der ganzen in allen Landstrichen stehenden Rechner programmiert. Eine Filtersoftware, die den Jugendschutzbestimmungen gerecht wird, wurde ebenfalls angepackt. Es kam Bewegung in die kleine Firma, die zu diesem Zeitpunkt immer noch aus zwei Festangestellten (zwei der drei Gründer) und einer Hand voll freier Mitarbeiter bestand. Vielleicht war es zuviel Bewegung auf zu wenig Raum. Vielleicht aber auch die Unerfahrenheit, wie es im “richtigen” Leben so ist. Vielleicht aber auch die Unbekümmertheit der Geldgeber, die nicht wussten, wie es wirklich um netzteil stand. Irgendwann kam der große Knall.

So schnell geht's.

Athen, wir kommen!

Zuvor gab es aber noch eine ganze Reihe positiver Nachrichten, die die gutgelaunten Investoren dann auch feierten. Beispielsweise die ersten Kontakte mit der Bundeswehr zur Ausstattung der Unterkünfte der Soldaten mit Internet-Terminals. Oder Gespräche in Frankreich zum Export von Idee und Terminal.
Das Kernstück: Internetterminal Galway
Die wohl heißesten Märkte aber kamen eher durch Zufall ins Gespräch: Zu den Olympischen Spielen in Athen sollte die von netzteil fast zur Serienreife gebrachte Software zum Einsatz kommen. Ernsthafte Interessenten gab es auch im deutschsprachigen Ausland: Die Arbeitsämter in Österreich wollten Terminals komplett aufstellen.
Und… Und… Und…
Aber es half nichts. Im Februar 2002, nur zwei Monate nach einer noch eilig anberaumten aber nicht mehr durchgeführten Kapitalerhöhung, kam das Aus. Sicherlich auch (aber nicht nur) wegen des damals großen Crashs in der Branche. Kreditwarnungen. Geldhahn zu. Nichts mehr da.

Plötzlich, unerwartet. Insolvenz. Peng: Eine Idee war am Ende, ein Traum zerplatzt. Und letztlich eine Menge Geld einfach futsch. Typisch Dot-Com…

Ich bitte die mäßige Qualität der Fotos zu entschuldigen. Die Originale (Dateien) suchte ich vergeblich.

( Dieser Beitrag liegt schon ganz lange unveröffentlicht hier rum. Es ist ein wenig Aufarbeitung dessen, was damals passierte. Nein, ich war kein Gründer/Angestellter dieses Unternehmens. Ich hoffe, keine Fehler bei den Fakten zu haben, da ich den Großteil aus Erinnerungen und Aufzeichnungen rekonstruiert habe. Die Geschichte ging auch noch weiter: Insolvenzverwalter, kümmert sich kaum. Terminals, die noch da waren, wurden verkauft. Domain ebenfalls. Was bleibt, ist nicht viel. Aber dieser Text. Darum ;-))